Das französische Urteil aus übersetzerischer Sicht

Das französische Urteil aus übersetzerischer Sicht

Autorin: Andrea Hechtl, beeidigte Übersetzerin für die Sprachrichtung Französisch-Deutsch, Fachgebiete: Recht, Urkunden, Wirtschaft, Kunst, Medizin

Französische Gerichtsurteile stellen für den Übersetzer aufgrund ihres komplexen Aufbaus eine besondere Herausforderung dar. Sie bestehen meist nur aus einem einzigen Satz, der sich über die gesamte Länge des Urteils erstreckt und optisch wie inhaltlich in verschiedene Bereiche untergliedert ist: Nennung der beteiligten Parteien, Sachverhaltsdarstellung, Parteianträge, Tenor und Entscheidungsgründe. Archaische Floskeln und Verbformen verwirren den Leser zusätzlich und lassen ihn nicht selten ratlos zurück. Zwar gibt es seit mehreren Jahrzehnten Bestrebungen, die schwerfällige Ein-Satz-Form aufzubrechen und eine flüssigere Formulierungsweise zu etablieren, dies konnte sich jedoch nicht überall durchsetzen. Nach wie vor dominiert die traditionelle Form, die von vielen französischen Juristen aufgrund ihrer sprachlichen Ästhetik und ihres konservativen Charakters geschätzt wird.

Herausforderungen bei der Übertragung in die Zielsprache

Den Übersetzer, dessen Aufgabe es ist, die Inhalte des Urteils in einer für den Leser verständlichen Weise in die Zielsprache zu übertragen, stellt dies zuweilen vor erhebliche Herausforderungen. Er muss die übergeordnete starre Satzstruktur komplett auflösen und den Ausgangstext in einzelne Aussagen umwandeln, die inhaltlich mit dem Ausgangstext übereinstimmen. Dabei besteht die Hauptschwierigkeit darin, die unterschiedlichen syntaktischen Ebenen zu identifizieren und in der Übersetzung deutlich zu machen, wessen Ansicht jeweils wiedergegeben wird – die der Parteien, die des angerufenen Gerichts oder die etwaiger Vorinstanzen. Aufgrund der stark reduzierten und formalisierten Ausdrucksweise besteht hier Verwechslungsgefahr und die Zuordnung erfordert detektivisches Gespür.

Bearbeitung mit CAT-Tools nicht möglich

Die besondere Syntax französischer Gerichtsurteile lässt eine Bearbeitung mit Übersetzungs-Hilfsprogrammen – den sog. CAT-Tools (Computer-Aided Tools) – nicht zu. CAT-Tools segmentieren Texte in Sinnabschnitte (üblicherweise Sätze oder Aufzählungspunkte), die vom Übersetzer nacheinander in die Zielsprache übertragen werden. Sie helfen ihm dabei, seine Arbeiten terminologisch einheitlich zu gestalten und ersparen ihm aufwändige Formatierungsarbeiten.

Da französische Gerichtsentscheidungen in den meisten Fällen in der Ein-Satz-Form verfasst sind und keine abgeschlossenen Sätze enthalten, entfällt die Möglichkeit der Arbeitserleichterung durch die Verwendung von CAT-Tools.